Die Antwort auf Fragen, die mit „Bin ich eigentlich die einzige Person …“ anfangen, ist grundsätzlich „Nein“.
Erfahrungsbericht zu einem positiven Outing bei den Eltern von Lily
Lesen war schon immer meine Welt. Als ich meinen ersten eigenen Laptop und damit Zugriff auf das Internet bekam, entdeckte ich Fanfictions für mich. Das sind Geschichten, die Fans zu Büchern und Filmen, die sie mögen, schreiben.
Einen besonderen Reiz übten Geschichten auf mich aus, in dem sich ein König in eines seiner Dienstmädchen verliebte (also Geschichten, in denen ein Machtgefälle vorkam). Bei der Suche nach ähnlichen Geschichten stieß ich irgendwann auf den Begriff BDSM – und eine Internet Suche später war mir klar, dass es für die Dinge, die mich interessieren, einen Namen gibt.
Bei diesen Recherchen entdeckte ich irgendwann die Webseite der SMJG. Von diesem Verein zu erfahren war großartig und schrecklich zugleich. Großartig, weil es da draußen anscheinend andere Menschen gibt, die sich für ähnliche Dinge interessieren wie ich und ich eine Möglichkeit gefunden habe, mich mit ihnen auszutauschen. Und schrecklich, weil diese Austauschmöglichkeit für mich scheinbar unerreichbar war. Ich komme vom Land und die nächsten Treffs waren zu dem Zeitpunkt über zwei Stunden mit dem Öffentlichen Nahverkehr entfernt – keine Chance, da mal ebenso „heimlich“ hinzufahren. Und da ich mich unglaublich schwer damit tue, „in Chats zu schreiben“, war der Chat der SMJG keine wirkliche Alternative für mich.
Diese ganze Situation muss sich etwa um meinen 15. Geburtstag herum abgespielt haben. Da ich keine Ahnung hatte, wie ich darüber mit meinen Eltern reden sollte, behielt ich meine Entdeckungen erst einmal für mich und wartete ab.
Etwa ein Jahr später kam ich mit meinem Vater ins Gespräch. Er hatte mitbekommen, dass es mir nicht so gut ging und dachte, es läge daran, dass ich gerne einen „Freund“* hätte und noch keinen hatte. Wir redeten über alles Mögliche, er erzählte mir einiges aus seiner Jugend – kurz: es war ein unglaublich schönes und vertrautes Gespräch. Irgendwann war ich an dem Punkt, wo ich sagte: „Papa, da ist noch was“.
Und dann erzählte ich ihm alles – von den Geschichten, von meiner Internetrecherche und dass ich mich für BDSM interessierte.
Er hat es unglaublich gut aufgenommen und war sehr bewegt, dass ich mich ihm anvertraute. Tatsächlich hat er dann vorgeschlagen, dass wir ja mal im Internet gucken können, ob wir Austauschmöglichkeiten für mich finden können, da er sich mit dem Thema nicht auskannte und mich wenig unterstützen konnte. Informiert wie ich war, konnte ich direkt die SMJG vorschlagen.
Ein paar Tage später haben wir dann gemeinsam meiner Mutter erzählt, dass ich auf BDSM stehe und dass es da diesen Treff gibt, wo ich gerne einmal hingehen würde. Meine Mutter hat ein wenig zurückhaltender reagiert als mein Vater, aber nicht negativ. Ich glaube, dass es für sie einfach sehr unerwartet war.
Meine Eltern haben dann die Orgas vom nächstliegenden Treff kontaktiert und mit ihnen einen Termin zum „Kennenlernen“ vereinbart. Bei diesem Treffen haben die Orgas meinen Eltern ein paar Dinge über den Verein erzählt und ihnen alle offenen Fragen beantwortet. Ab dem nächsten Monat durfte ich dann regelmäßig den Treff besuchen und mein Vater hat mich anfangs sogar zu jedem Treff gefahren! (nach einige Zeit bin ich dann aber auf „mit den Öffis fahren und bei Verwandtschaft übernachten“ umgestiegen)
Dass ich auf BDSM stehe, ist sonst kein großes Thema mehr. Geoutet sein hat in meinem Fall aber schon einige Vorteile: ich kann meinen Eltern erzählen, wenn ich auf einen Treff gehe oder zum CT fahre, ich habe zu Weihnachten schon einmal Bücher mit BDSM-Bezug bekommen (die ich mir gewünscht habe) und ich wurde seit meinem Outing nicht ein einziges Mal gefragt „wann ich denn mal einen „Freund“* mit nach Hause bringen würde“.
Der einzige, ein wenig unangenehme Moment war nach meiner ersten BDSM-Party, wo beide (inzwischen getrennte) Eltern wissen wollten, wie es denn war und ich mir nicht sicher war, ob sie das wirklich wissen wollten. Aber auch diese Situation konnte ich mit einem sehr gekürzten Bericht bewältigen.
Auch wenn ich sehr gute Erfahrungen mit dem Outing bei meinem Eltern gemacht habe, würde ich euch raten, gut darüber nachzudenken, ob ihr euch ebenfalls outen wollt. Sollte das Outing nicht so gut laufen, könnt ihr es nicht zurücknehmen. Gleichzeitig kann ein Outing viele Dinge deutlich entspannter machen. In meinem Fall hätte es keine Möglichkeit gegeben, einen Treff vor meinem 18. Geburtstag zu besuchen, hätte ich mich nicht geoutet. Ich bin sehr froh, dass ich schon so früh den Treff besuchen konnte, da ich dort so viele tolle Menschen kennengelernt habe.
Mehr Informationen sowie Tipps zum Outing findet ihr auch in unserem „Outingleitfaden für Jugendliche“.
* ich gendere ja sonst alles, aber meine Eltern halt nicht
Dieser Bericht wurde von Lily (23 Jahre alt) verfasst